Montag, 12. Oktober 2009

"Ethik-Selektivismus"

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Es geistert ein Cartoon durch die Forenwelt, der zu Diskussionen anregt und manches Gemüt erhitzt.
Er basiert auf der Annahme, dass Veganer, die sich privat mit unvegan lebenden Menschen abgeben, nichts als Mitläufer, Kollaborateure und "Tierleidapologetenkuschler" seien.

Bild 1.

Er:
"Also ich verstehe nicht, wie du dich in einen Leichenfresser verlieben kannst."
Sie:
"Och, wenn er vorm Küssen die Zähne putzt, nachdem er die Currywurst gegessen hat..."

Bild 2.

Er:
"Also ich verstehe nicht, wie du dich in einen Fascho verlieben kannst."
Sie:
"Och, wenn er seine Kleidung ordentlich auslüftet, nachdem er eine Brandbombe in ein Asylbewerberheim geworfen hat..."

http://veganismus.ch/foren/misc/beziehungen.png

Speziesismus und Faschismus sind Brüder im Geiste und es ist undenkbar, mit Nazis für Tierrechte zu demonstieren.
Doch ab welchem Punkt kann man einen Menschen als "unbelehrbar" einstufen und sozial sich selbst überlassen?
Es ist klar, dass kein Veganer genötigt werden kann, seinen Freunden oder seinem Partner eine Leiche zu servieren, sowenig, wie man als Antifaschist an Naziaufmärschen teilnehmen sollte.
Man muss sich aber fragen, ob ethische und ideologische Differenzen dazu verpflichten, einen Menschen in seiner Ganzheit abzulehnen.
Wenn man solche Maßstäbe setzt, gibt man zwar vor, konsequent zu sein, betreibt aber Lagerwirtschaft, die zur Stagnation führt.
Im Endeffekt steht der Veganer als vermeintlich arroganter Gutmensch in selbst gewählter Isolation und hat es umso schwerer, seine Position zu vertreten.
Die "Ossis" durften in den Sechzigern keinen Rock 'n Roll hören, der war eine Erfindung des imperialistischen amerikanischen Systems und somit schadete jeder, der Rockmusik hörte, dem Sozialismus.
Man kann auch sagen, Rock 'n Roll sei ein Produkt unveganer Menschen und somit schadet jeder, der Rockmusik hört, dem Veganismus.
Muss man aber nicht...

Ich bewege mich zwischen Veganern, Vegetariern, Omnivoren, zwischen Arbeitern, Künstlern, Punks, Oi-Skins und "Normalos", ob aus diesem oder einem anderen Land, ich höre Musik von unveganen Bands, lese Bücher von unveganen Autoren, schaue Filme mit unveganen Schauspielern, musiziere mit Vegetariern und lerne manchmal sogar Faschos kennen.
Was bringt es mir, der Gesellschaft, den Tieren oder dem tumben Nazi, wenn ich dicht mache?
Ich habe mich einst mit einem NPD-Wähler aus meiner Nachbarschaft unterhalten, ich habe mir seine "Argumente" angehört und ihm geantwortet.
Ich versuchte ihm u. a. zu verdeutlichen, dass man keine Käseglocke über Deutschland setzen kann, dass es dann keine freie Marktwirtschaft gäbe und ich habe ihm das Geständnis entlockt, dass er gerne Döner frisst. Es war einen Versuch wert und er hat reflektiert.
Unwissenheit und Minderwertigkeitskomplexe sind keine unheilbaren Krankheiten.
Dieses System krankt an dekadenten Maßstäben, die einer korrupten Wirtschaft, überfüllten Schulklassen, mangelnden Freizeitalternativen und zu wenigen Ausbildungsstellen entgegen stehen, weshalb politische Meinungsbildung leicht von rechts außen beeinflusst werden kann.
Ähnliches gilt für das ethische Konsumverhalten, welches wohl kaum einem Kind durch staatliche Institutionen vermittelt wird.
Sind nun alle Faschos und Speziesisten automatisch "Arschlöcher"?
Wohl kaum, so wahr aus der Masse der Speziesisten jeden Tag neue Veganer hervorgehen...

Dass Antifaschisten in Freundschaft oder Partnerschaft mit Faschos zusammen sind, kommt zwar kaum vor, aber wenn doch, wo wäre das Problem?
Macht sich ein Veganer, bzw. Antifaschist, der eine ethisch/politisch gegensätzliche Freundschaft oder Partnerschaft lebt, wirklich mitschuldig?
Ich denke, das Gegenteil ist zutreffend. Solange dieser vegane/antifaschistische Mensch weiterhin seiner Linie treu bleibt und nicht aufgibt, positiven Einfluss auszuüben, leistet er einen sinnvolleren Beitrag, als jene, die sich zurückziehen und jeglichen Dialog verweigern.
Inwiefern die unterschiedlichen Ansichten und Interessen überhaupt eine Freundschaft/Partnerschaft ermöglichen, ist genauso individuell verschieden, wie das Potenzial, etwas zu ertragen, was einem gewaltig gegen den Strich geht.
Doch wenn der Wille gegeben ist, sollte man nicht von außen darüber urteilen, sondern - ganz im Gegenteil - diese Partnerschaft bestärken.
Ich bin dafür, dass mehr Faschos mit Antifaschisten zusammen sind, weil sie von denen eine Menge lernen können. Sollen sich meinetwegen alle gegenseitig adoptieren, wenn sie die Nerven dafür haben...
Was bringt es, wenn die "Schlauen" die "Dummen" links liegen lassen, statt sich ihrer anzunehmen?
Sind sie dann nicht selbst schuld an der allgemeinen "Dummheit"?
Sind dann nicht am Ende ALLE die "Dummen"?

Überall, wo sich der Mensch in seiner Geschichte ideologisch gruppiert und in seiner Ganzheit vom Rest der Welt abgesondert hat, entstanden Konflikte und Kriege.
Jede Religion hat ihre Dogmen und man muss sich fragen, wie leicht es ist, aus dem Veganismus über Dogmen eine Religion zu machen...
Interessant ist hierbei, dass gerade jene veganen Dogmatiker jegliche Religion zutiefst verabscheuen.

Ein Mensch ist mehr als einfach nur ein "Speziesist", ein "Nazi", ein "Theist" oder ein "veganer Gutmensch".
Wenn man das begreift, kommt man über die Umwege seiner Persönlichkeit, bei der man vielleicht sogar "liebenswerte Aspekte" findet, auch an die Grundpfeiler seiner Ideologie...
Schlimm, dass es hier wie da Veganer gibt, die das nicht begreifen und mit ihren arroganten Aussagen jene abschreckenden veganen Stereotype liefern, die Nichtveganern als Alibi dienen.
Wer tut hier also wem einen Gefallen?

Naja... Ich gebe zu, dass es mir hin und wieder Spaß macht, mich über Menschen lustig zu machen, die sich als "Antiveganer" bezeichnen.
Doch muss ich sie deshalb in ihrer Ganzheit ablehnen?
Wir sollten versuchen, positive Eigenschaften zu suchen und sie als Ansatzpunkt zu nutzen, statt die Grenzen weiter aufzuschütten, indem wir uns abspalten, verallgemeinern und von oben herab urteilen.
Konstruktive Kritik und Dialogbereitschaft bringen uns sicher weiter, als ein praktizierter "Ethik-Selektivismus"!

LG, Schlunz

Nachtrag Januar 2013: 

Die von mir illustrierte Broschüre "Geht mal gar nich: "Tierrechte und Nazis" wurde von einem so genannten "Aussteiger" verfasst und sie wird von der "Austeigerhilfe Bayern" verlegt. Der Begriff "Aussteiger" bestätigt alles, was ich oben geschrieben habe.

Nachtrag Februar 2013:

Ich möchte hier ein Zitat von Dirk Gießelmann anhängen, das ich unter einem Foto las, auf dem ein offensichtlicher Nazi mit Muttis blauer Einkaufs-Rolltasche zu sehen ist.
Das Zitat ist eine Reaktion auf die Kommentare, es ist Poesie und Philosophie in höchster Schwingung und es hat mich tief berührt.

Und ich denke:
Har-Har, witztisch //
Hackenporsche, muha...
88 - Habe Hunger? HAR-HAR?
Und ich denke:
und wenn er das Wägelchen vor 'ner Döner-Bude abstellt
und detonieren lässt,
Wo ist mein Lachen dann?
Schämen würde ich mich.
Und ich denke:
Was bezweckt mein Spott?,
und ich merke:
dass ich Angst hab,
und ich denke:
dass ich spotte,
weil ich urteile,
und ich denke:
Wer ist das? WER ist das?
Jens? Peter? Marcel?
Und ich denke:
Junge, du warst doch auch mal Kind,
8 Jahre alt,
Holger? Jan? Kai?
Und ich denke:
Mein Urteil will ich nicht,
nein, ich will es nicht, weil es nicht das GANZE erkennt,
und ich denke:
sieh, wie wir uns alle irren -
indem wir uns getrennt sehen,
und in Körpern,
du du und ich ich
weiß weiß und schwarz schwarz,
und angestrengt Tag für Tag Selbstbilder spinnen,
und doch: sind wir alle EINS,
Geister, die sich mit ihren Körpern identifizieren
und in Familien leben
und sich Familien schaffen
und sich gruppieren
und sich distanzieren,
und ich denke:
Mensch, Du,
kein Urteil will ich haben
über dich, über mich,
und ich reiche dir meine Hand -
so lange schon wartest du auf diesen Augenblick,
dass ich dir meine Hand reiche,
seitdem du 8 Jahre alt bist
wartest du darauf,
und weil niemand dir die Hand gab,
hörtest du auf damit, anderen die deine anzubieten.
Und immer noch sind wir Kinder,
ALLE,
es meine niemand, man wird kein Kind mehr sein,
nur, weil man älter wird.
Und ich denke:
88 - Hitler, Hackenporsche, Bier und Kuschelrock-CD...
wenn wir doch endlich die Mauern überwänden
in unseren Köpfen,
aber ja doch:
Wie sonst außer durch LIEBE könnte FRIEDEN entstehen?
Kai Jens Uwe Peter Sven Holger Marcel...
ich liebe dich!
KOMM, LIEBE MIT MIR!
Befreien wir uns von unseren 'Ichs',
die existieren, um sich als getrennte Egos in zu [uni]formieren,
halten wir Hände,
schauen uns in die Augen
lachen uns an
und dann:
wieder was dazu gelernt.
Wie immer. Wie immer,
bis: das Lernen endet,
bis: wir: EINS geworden sind,
in Frieden.
In 20 Jahren hat '88' lange Haare, 'nen Bart
und erinnert sich mit Falten auf der Stirn
an seine Vergangenheit,
in der er noch dachte, ein ganz spezieller Mensch zu sein,
eine Form, die er erfüllte,
eine Gestalt, die er schuf,
ein Mensch, den er machte,
anders als die anderen - und doch: genau wie alle anderen,
bis,
ja bis:
plötzlich sich alle die Hände reichten...

--
made me think.


***

Danke!