Dienstag, 8. Dezember 2009

Sie schämen sich...

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Sie schämen sich... Tag für Tag...
Irgendwo, tief in den dunklen Windungen von Psyche und Ratio, hat fast jeder Tierleidverwerter unserer Gesellschaft, mit Zugriff auf Medien und Information, gecheckt, dass Veganismus keine "Hexerei", keine "Monodiät" und kein "gefährliches Experiment" mit der eigenen Gesundheit ist.
Und so realisiert jeder dieser Menschen ebenso, dass er seine Ausreden für unveganes Verhalten genauso vor sich herschiebt, wie ein unhygienischer und unordentlicher Mensch das dreckige Geschirr, den Müll und die Schmutzwäsche...
Uns ist klar, dass es nicht nur ästhetische, sondern auch ethische Aspekte beinhaltet, unsere Mitmenschen nicht mit unserem Körpergeruch, unserem Müll und unseren selbst gezüchteten Krankheiten zu traktieren.
Bei so etwas Essentiellem, wie der Nahrungsbeschaffung, scheint uns dieser Zusammenhang aber nicht weiter zu interessieren, auch wenn Begriffe wie "Schweinegrippe", "Schweinepest", "Vogelgrippe", "Salmonellen" und "Gammelfleisch" klare Warnsignale senden.
Uns ist auch klar, dass es nicht nur ästhetische, sondern auch ethische Aspekte beinhaltet, unsere Mitmenschen nicht umzubringen, auszuweiden und öffentlich zur Schau zu stellen.
Bei so etwas Essentiellem, wie der Nahrungsbeschaffung, scheint uns dieser Zusammenhang aber im Bezug auf andere Spezies nicht weiter zu interessieren, auch wenn Begriffe wie "zentrales Nervenzentrum", "Bewusstsein" und "Leidensfähigkeit" klare Warnsignale senden.

Es mag sein, dass der Mensch in seiner kurzen Entwicklungsspanne nicht daran vorbei kam, andere Spezies zu jagen oder zu züchten, um zu überleben und es macht wenig Sinn, über Menschen zu urteilen, deren Verfügbarkeit über vegane Alternativen begrenzt war/ist.
Aber man kann über das Verhalten einer Gesellschaft urteilen, die über alle veganen Alternativen verfügt und diese dennoch ignoriert.

Wir haben doch eigentlich verstanden, dass das NS-Regime nur deshalb funktionierte, weil es von der breiten Masse toleriert und getragen wurde.
Ich frage mich nun, was in diesen Menschen vorging: Haben sie sich geschämt, so wie es Günter Grass heute tut?
Ich denke, die Meisten haben sich auch irgendwie geschämt...
Da war diese innere Stimme, die ihnen sagte, dass da was schief läuft.
Kein Deutscher wurde jemals vergast, weil er sich weigerte, Juden zu vergasen, was dennoch in unvorstellbarer Zahl geschah...
Da war zwar einerseits die Scham, aber es war auch irgendwie "toll, mal ganz unter sich" und viel "schneller", "zäher" und "härter" zu sein, als der "unarische" Rest der Welt.
Der Mensch ist ein Herdentier und er hinterfragt selten, ob die Herde nun wirklich in die richtige Richtung läuft, da er als Konsequenz eventuell eine andere Richtung anstreben müsste.
So was bedeutet u. U. Reibung, Widerstand und das Ende diverser Bequemlichkeiten.

Ich halte es für eine "Kunst", die Umstände der industriellen "Nutztierhaltung" beim Konsum von Tierprodukten geistig auszublenden oder sich und anderen einzureden, man würde ja nur "vor Glück triefende Bio-Ware" konsumieren.
Die Argumente, mit denen der Mensch in der NS-Zeit seine Mittäterschaft zu rechtfertigen versuchte, sind nicht weniger peinlich, als jene heutiger Tierleidverwerter.
Da sich Letztere gern auch mal "Tierfreund" schimpfen, stellt sich die Frage, wie viele KZ-Wärter und Deputationsgehilfen sich heimlich als "Menschenfreund" definierten.
Diese Heuchelei wird damals wie heute vom Täter erkannt, möglichst fest verschnürt und findet ihren Platz auf der individuellen moralischen Müllhalde, wo alles Unbequeme und Widersprüchliche dahinvegetiert.
So, wie eine deutsche Prominente medienwirksam Kinder in der Dritten Welt besucht und gleichzeitig für einen Textildiscount wirbt, der seinen Bestand aus bengalischen Sweatshops erwirtschaftet, hat jeder Tierleidverwerter dieser Gesellschaft seine Doppelmoral.
Doch die Scham, die daraus resultiert, bleibt standhaft unter der Oberfläche und wie das üble Aufstoßen bei Sodbrennen kommt sie immer wieder hoch, spätestens dann, wenn man aus Versehen über den vermeintlich falschen Sender stolpert, mitten in eine Doku über Tiertransporte und Akkordschlachtung oder eine Internetseite mit unbequemen Fakten und Texten.

Egal, wie schnell man den Sender wechselt, wie schnell man eine andere Seite anklickt und versucht, visuelle und argumentative Einflüsse zu verdrängen, die Scham bleibt.
Wie wir mit einem Umstand umgehen, für den wir uns schämen, ist wohl eine Charakterfrage.
Ob man die Scham nun albern überspielt, durch Selbsttäuschung zu entschärfen versucht oder die alternativen Möglichkeiten verunglimpft, ist individuell verschieden.
"Die vorsätzliche Verunglimpfung ist immer der argumentative Offenbarungseid, da der rhetorische Versager hiermit anerkennt, dass er keine Argumente hat und so den Gegner herabwürdigen muss, um seine Sicht der Dinge aufrecht erhalten zu können." (A. Odoemena)
Jeder Veganer weiß um die Wahrheit dieses Satzes.

Tja... Veganer... "Ein paar Freaks", die sich nicht länger schämen wollen...
Man kann sich retrospektiv schämen, für Dinge, die man mal getan hat, aber man kann sich wohl kaum vormachen, dass man sich charakterlich weiter entwickelt, während man die eigene Schamesröte Tag für Tag mit dummen Ausreden überpinselt.
Ich habe festgestellt, dass Veganer weniger Konfrontationsängste gegenüber visualisiertem Tierleid haben, als Ominivore und Vegetarier.
Die Abscheu, mit der Letztere auf dokumentatorisches Foto- und Filmmaterial reagieren, entlarvt ihre Scham und ihre Angst vor allem, was unbequeme Konsequenzen mit sich bringt.
Nun ist Veganismus zwar ganz bequem realisierbar, aber der Mensch ist ja ein Herdentier...
In stillem Einverständnis leben diese Herdentiere mit ihrer Scham, als würden alle dreckig sein und stinken, wie es 1700 als Norm galt, obwohl sauberes Wasser zur Verfügung steht.
Und da Empathie von so manchem vermeintlich "harten Kerl" als Schwäche ausgelegt wird, schämen sich Leute sogar dafür, dass sie sich schämen...
Wir müssen uns insofern nicht fragen, wie es zu einem Dritten Reich kommen konnte, wir müssen nur die Augen auf machen und uns umschauen.

Bevor ich jetzt wieder für Nazi-Analogien kritisiert werde, möchte ich den Kritikern empfehlen, ihren geistigen Horizont zu erweitern:
"Für die Tiere ist jeden Tag Treblinka" von Charles Patterson
Über die Ursprünge des industrialisierten Tötens.
Verlag Zweitausendeins, Frankfurt a. M.

"Amerika schenkte uns den Schlachthof, Deutschland die Gaskammer.
Charles Patterson findet im System des industriellen Tötens die Brücke vom Schlachthaus zum Konzentrationslager ... Der Schriftsteller Isaac Bashevis Singer hat gesagt, dass für die Tiere jeden Tag Treblinka sei. Dass den Tieren gegenüber jeder Mensch ein Nazi sei. Der Geschichtsdozent und Psychotherapeut Charles Patterson hat ein Buch über die Ursprünge des industriellen Tötens geschrieben. Er behauptet, und er ist nicht der einzige, der das behauptet, dass ein gerader Weg von der Hölle der amerikanischen Schlachthöfe zu den deutschen Konzentrationslagern verläuft, so wie auch ein gerader Weg von den amerikanischen eugenischen Programmen zu den eugenischen Vorstellungen des Deutschen Kaiserreichs und dem Rassenwahn der Nationalsozialisten geht. Amerika, schreibt Patterson, schenkte der Welt den Schlachthof, Deutschland schenkte der Welt die Gaskammern...
Pattersons Buch ist jedem Fleischesser und Vegetarier zu empfehlen, vor allem den jüngeren. Denn es ist einfach und mit deutlichen Worten geschrieben, und es bündelt in These, Geschichte und Zitat Ungeheuerliches."
(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.1.2005)

Bleibt die Frage, ob wir unserer Scham erst dann Beachtung schenken, wenn wir alt und grau sind...

LG, Schlunz